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Arbeitsbeispiele

Typografischer Lobbyismus

Eine Schrift für Milliarden

       

DIE SITUATION

Ende April 2021 kündigte Microsoft an, nach 15 Jahren die „Calibri“ als Systemschrift abzulösen und fünf mögliche Nachfolger zur Nutzung auf den weltweit millionenfach genutzten Office-Apps zur Wahl zu stellen. Die zusätzlichen Informationen dazu alarmierten uns, denn die Namen der Schrift-Kandidaten lauteten Tenorite, Skeena, Grandview, Seaford — und Bierstadt!  

Bierstadt ist ein zentral gelegener Ortsbezirk der Landeshauptstadt Wiesbaden, der sich bis auf eine Höhe von 275 Metern über dem Meeresspiegel erhebt. Wir haben in Wiesbaden unsere gestalterische Ausbildung durchlaufen, hier befindet sich der Sitz unserer Designagentur Q, in Wiesbaden leben die meisten Angehörigen unseres Teams, Kunden, Freunde und Familienmitglieder — viele davon auch in Bierstadt. Hier steht die älteste Kirche Wiesbadens (aus dem Jahr 1100), in Bierstadt befinden sich viele Kur- und Spezialkliniken von Weltrang, ihr Aukammtal schließt einen großen Apothekergarten (mit 240 Heilpflanzen auf 5.500 Quadratmetern) ein, es gibt eine Sternwarte und ein pulsierendes Vereinsleben. Also war uns klar: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass eine Schrift mit diesem Namen das Rennen als neue Standardschrift macht und mehr als eintausend Millionen Menschen vor ihren Computern ab dem Jahr 2023 mit Bierstadt zu tun haben! Das wird unserer Region zu unerwarteter internationaler Bekanntheit verhelfen. Die Entscheidung von Microsoft wurde lange erwartet – und im Juli 2023 getroffen. Dazu später mehr …

DER PLAN

Um die Aufmerksamkeit auf die neue Schrift zu lenken, entwickelten wir zunächst Werbemittel mit unterschiedlichen Botschaften. Dabei ging es uns unter anderem darum, typografisches Wissen zu vermitteln und die Vorzüge der Schrift zu betonen. So weist Bierstadt im Zeichensatz beispielsweise ein kleines L auf, das am unteren rechten Ende eine kleine Kurve beschreibt und somit nicht — wie bei drei Wettbewerberschriften — durch einen einfachen Vertikalstrich mit dem großen i verwechselt werden kann. (Q-Gründer Laurenz Nielbock, dessen Mailadresse mit seinen lnitialen ln beginnt, leidet unter dem Il-Problem schon seit vielen Jahren!) Zu den von uns angefertigten Bierstadt-Produkten gehört neben Postkarten, Tassen, Stoffbeuteln und Poster auch ein „Minuskelshirt“ (Kleinbuchstaben werden in der Fachsprache Minuskeln genannt). Da in Bierstadt zahlreiche ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger wohnen, darunter viele hundert Menschen mit US-amerikanischem Pass, haben wir auch Werbemittel auf Englisch produziert. Dazu zählt eine Tasse mit dem Aufdruck „Better than Georgia and Monaco“ (zwei über 20 bzw. 30 Jahre alte Systemfonts aus der Microsoft-Liste).
Das Minuskelshirt: Kleinbuchstaben, gesetzt in der Bierstadt

DAS ZIEL

Dass Typedesigner Steve Matteson sich beim Namen für die Schrift von einem über viertausend Meter hohen Berg in den Rocky Mountains inspirieren ließ, benannt nach dem Landschaftsmaler Albert Bierstadt, haben wir zur Kenntnis genommen. Aber „unser“ Bierstadt liegt uns natürlich näher. Wir wollen, dass bei der globalen Suche nach diesem Namen kein Weg an Wiesbaden vorbeiführt. Dabei hilft uns das lokale Stadtmarketing ebenso tatkräftig wie unser kleines, mit Wiesbaden gut vertrautes Netzwerk von Unterstützern in Ann Arbor, Palm Springs, Québec und Sterzing. Uns alle verbindet ein Ziel: Bierstadt soll die neue Standardschrift von Microsoft werden!

Das Feedback zu den in Frage kommenden Schriften sammelt das Unternehmen unter diesem Link auf Twitter.

Die abgebildeten Bierstadt-Produkte kann man hier im Souvenir-Shop der Stadt Wiesbaden am Marktplatz erwerben, einige auch in der Bierstadter Bücherstube „Buch vor Ort“ und auf der Wilhelmstraße bei Frau Kreuter. Allerdings nur solange der Vorrat reicht, denn die Auflagen sind limitiert. Das Stadtmuseum am Markt (sam), das Museum zur Wiesbadener Stadtgeschichte, hat die Bierstadt-Werbemittel in ihre ständige Sammlung aufgenommen.

Die nationale Presse – z. B. die Süddeutsche Zeitung, die WELT oder DIE ZEIT – hat über die Kampagne bereits berichtet.

Bierstadt-Fußmatte
Bierstadt-Fußmatte

GUTE GRÜNDE

Wiesbadener Heimatverbundenheit allein reicht als Argument für die weltweite Nutzung der „Bierstadt“ natürlich nicht aus. Doch auch nach genauerer typografischer Analyse schneidet unser Favorit am besten ab. 

Jede Schrift verfügt über einen eigenen Charakter – ein Microsoft-Standardfont muss naturgemäß neutral sein. Nur dann kann er in verschiedenen Zusammenhängen funktionieren. Klassische Schriften passen nicht in eine moderne Umgebung, moderne Schriften wirken im klassischen Kontext deplatziert. Bei Bierstadt sind klassische und moderne Attribute bestens ausbalanciert, deshalb kann die Schrift für zahlreiche unterschiedliche Layouts genutzt werden. Wie sieht es mit den vier Wettbewerbern aus?

  • Tenorite ist als Displayfont – also in größeren Schriftgraden für Überschriften – besser als für Langtexte geeignet. Die stark geometrischen Buchstaben bedingen eine große Laufweite, das streckt die Wörter, Information kann so nicht komfortabel auf eingeschränktem Raum (wie schmalen Textspalten oder mobilen Anwendungen) untergebracht werden. Für formale Dokumente wäre die modernistische Formensprache der Tenorite unangemessen. Außerdem weist ihr Kerning, also der automatisierte Buchstabenabstand, Schwächen auf; tippt man beispielsweise „lol“, steht das „o“ zu weit rechts. Das kleine „u“ sieht im Roman-Schriftschnitt auf der rechten Seite zu eng aus. Das „s“ kippt optisch nach hinten, seine Endungen wirken im Vergleich zum „e“ und „c“ eingedrückt. Der Bold-Schnitt ist nicht deutlich genug.
  • Auch die Einsatzmöglichkeiten von Seaford sind limitiert, was an der eher kalligrafisch-klassischen Tonalität der Schrift liegt. Die Abstände der Buchstaben zueinander wurden nach unserer Überzeugung nicht professionell genug ausgearbeitet; gibt man beispielsweise das Wort „AIR“ mit der Tastatur ein, so steht das A deutlich zu weit von den beiden anderen Lettern entfernt.

  • Skeena eignet sich zwar gut für formale (Büro-)Anwendungen und überzeugt durch eine gute Lesbarkeit, doch für moderne oder technische Layouts ist sie weniger dienlich.

  • Die Schrift Grandview ist stilistisch sicherlich der neutralste Wettbewerber von Bierstadt, doch fehlen ihr jegliche Eleganz oder Lesefreundlichkeit. Kein Wunder: Ihr Ursprung liegt in der genormten Beschriftung von Verkehrsschildern. Einige Details – zum Beispiel das sehr raumgreifende „r“ und „s“ oder das schmale „t“ – behindern die Lesbarkeit. Der international renommierte Typograf Erik Spiekermann befindet sogar: „Grandview is a butchered copy of DIN.“

Deswegen kann es nach genauer fachlicher Prüfung der fünf Schriften, die um die Nachfolge der Calibri kämpfen, nur einen siegreichen Kandidaten geben: Bierstadt.

Am 14. Juli 2023 wurde dann endlich das Ergebnis von Microsoft verkündigt. Danach hat unser Favorit das Rennen gemacht! Allerdings wurde die Schrift auf der Zielgeraden einfach in „Aptos“ umbenannt. Das ist wiederum sehr traurig.

Brötchentüten für die Wiesbadener Bäckerei Schröer in streng limitierter Auflage von 100.000 Stück.